Rhododendronblüte und Buchschätze

Ein Bericht von Silvia Werfel

Viermal schon ist die Hansestadt in der Vergangenheit Treffpunkt bibliophiler Begegnungen gewesen: 1913 (das Festessen fand damals im Hotel Esplanade mit 155 Teilnehmern statt), 1947 (Versammlung zur Neugründung der Gesellschaft), 1927 (mit 300 Teilnehmern und von der Gesellschaft für Bücherfreunde zu Hamburg mit organisiert) sowie 1958 (auf Einladung der Gesellschaft für Bücherfreunde). Genau 58 Jahre später wurde Hamburg erneut zum Tagungsort auserkoren.

Erste Station war am Freitag (27. Mai) die Gerd Bucerius Bibliothek im Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G). Dr. Thomas Gilbhard, Leiter der Bibliothek und der Sammlung Buchkunst, empfing die Bibliophilen und präsentierte ihnen eine kleine feine Vitrinenausstellung mit Drucken aus dem Umfeld der Arts-and-Crafts-Bewegung und des Jugendstils. Einige Pressendrucke des 20. Jahrhunderts lagen darüber hinaus zum Blättern bereit.

Zu dem 1876 eingeweihten Museum gehörte von Anfang an eine eigene kunstwissenschaftliche Fachbibliothek. Erster Direktor des Museums war Justus Brinckmann (1843–1915), mit ihm begann das institutionelle Sammeln von Buchkunst in Hamburg. Er verfügte über «ein enormes Urteilsvermögen» und hatte zudem ein spezielles Faible für Einbandkunst, denn zeitgenössische künstlerische Strömungen finden auch hier Niederschlag. Brinckmanns Sammelschwerpunkt waren die Pressendrucke seiner Zeit, vor allem die englischen und französischen. Vieles erwarb er bei der Weltausstellung 1900 in Paris direkt von den Künstlern.

Zu sehen waren hinter Glas neben dem berühmten Kelmscott Chaucer von William Morris (Vorzugsausgabe, gebunden von der Doves Bindery, 1896) zwei weitere Einband-Preziosen: zu L’art gothique von Louis Gonse schuf Eugène Grasset den Entwurf. Die Umsetzung mit Maroquin-Lederintarsien in verschiedenen Farben stammt von René Wiener (École de Nancy, um 1898). Kraft und Lebendigkeit der Linie – neben Grassets monumental wirkender figürlicher Motivik zeigte der unikale Handeinband nach einem Entwurf von Henry van de Velde für William Fletchers English Bookbindings in the British Museum (1895) weich fließende Jugendstil-Linienornamentik. Maroquinleder mit farbigen Intarsien in Handvergoldung – Paul Claessens, Brüssel, setzte dies meisterhaft um. Nicht angemessen vertreten seien in der einige tausend Bände umfassenden Sammlung Buchkunst Buchbinder wie Paul Adam, Paul Kersten, Carl Sonntag jun., Otto Pfaff, Otto Dorfner – womöglich war Justus Brinckmann mit seinem Faible für die Einbandkunst da zu anglo- und francophil und übersah, was sich im eigenen Land an künstlerischem Potential entwickelte, gab Dr. Thomas Gilbhard zu bedenken.

Blättern konnten die Bibliophilen unter anderem im Buch Jona der Grillen-Presse (1950) mit Holzschnitten von Gerhard Marcks und in Simon Trastons Mülltraktat der abwechselnd in Hamburg und Prag lebende Buchkünstler Svato Zapletal machte 2010 daraus ein «Müll-Re-Use-Buch», verwertete Reste (Abdruckpapiere), setzte darauf weitere Farbschichten, Acrylbilder und Zeichnungen und den Text aus der Bodoni in 48 Punktgröße.

Plädoyer für die Buchkultur

Zum Abschluss des Besuchs im MK&G gab es von Dr. Stanislaw Rowinski noch ein flammendes Plädoyer für die Buchkultur. Als Restaurator und aktuell dienstältester Mitarbeiter des Hauses appellierte er an die Anwesenden: «Die Zukunft des Buches liegt in Ihrer Hand.» Das klassische Buch müsse überleben. Schönheit sei hier das Zauberwort, schließlich gelte Cobden-Sandersons Idee vom Ideal Book immer noch. Die Bibliophilen müssten Verantwortung dafür übernehmen. Auch eine Stadt wie Hamburg sei gefragt, nicht zuletzt sei Hamburg doch nicht nur die Stadt der «Pfeffersäcke», sondern auch die der Kunst- und Buchkunstliebhaber!

Derart aufgerüttelt, ging es in die Mittagspause und danach ins Ernst Barlach Haus, Stiftung Hermann F. Reemtsma. Hier begrüßte Dr. Karsten Müller, Leiter des Museums, die Gäste aufs herzlichste, obwohl gerade inmitten der letzten Vorbereitungen für die kurz vor der Eröffnung stehende neue Ausstellung Aufbruch in Farbe. Die Expressionisten aus dem Osthaus Museum Hagen. Allein der flache funktionalistische Museumsbau des Hamburger Architekten Werner Kallmorgen von 1962 ist bemerkenswert. Die um den nachträglich mit einem gewölbten Glasdach versehenen Innenhof gruppierten Ausstellungsräume mit Durchblicken und Sichtachsen, Oberlichtern, Podesten und Nischen begünstigen die spannungsreiche Präsentation der Holzskulpturen und Bilder dieses so vielschichtig-vielseitigen expressionistischen Bildhauers, Zeichners und Schriftstellers Ernst Barlach (1870–1938).

Einsatz für Ernst Barlach und sein Werk

1934 hatte Hermann F. Reemtsma ihn in Güstrow das erste Mal besucht, «weil mich seine Kunst, der ich erst zwei Jahre zuvor bewusst begegnet war, anging. Alles Weitere, was daraus erfolgte, war innere Verpflichtung und hat nichts mit Mäzenatentum zu tun.»  So Reemtsma 1948. Eine bedeutende Sammlung entstand daraus. Dank des anhaltenden Engagements der Stifterfamilie umfasst sie derzeit rund 140 Bildwerke aus Holz, Bronze, Keramik, Porzellan, Terrakotta und Gips, mehr als 400 Zeichnungen aus allen Schaffensphasen, nahezu sämtliche Druckgrafiken sowie wichtige Autografen, rare Mappenwerke, Erstausgaben und Archivalien.

Die Bibliophilen konnten einiges in Augenschein nehmen, darunter das Mappenwerk zu dem archaisch anmutenden Theaterstück Der tote Tag, erschienen 1912 bei Paul Cassirer und versehen mit 27 Lithografien – die Originalzeichnungen lagen zum Vergleich bereit. Schwere Kost. Etwas leichtfüßiger tritt die Prosa auf, etwa Ein selbst erzähltes Leben (Paul Cassirer, 1928). Oder auch die Sammlung von mit Zeichnungen versehenen Künstler-Briefen an Hermann F. Reemtsma.

Man hätte noch länger verweilen können, aber der Bus stand schon für die Stadtrundfahrt bereit. Othmarschen prunkte mit Rhododendronblüte, viel Reetgedecktem und mit den Villen und Parks der durch Handel vermögend gewordenen Hamburger Familien. Im Freitagnachmittagsstau und bei Nieselregen ging es danach, bequem im Trockenen sitzend und vom Stadtführer Sven-Olaf bestens unterhalten, an den Hafen mit der Elbphilharmonie, die nun am 11. Januar 2017 feierlich eröffnet wird, vorbei an einem der nördlichsten Weinberge Deutschlands mitten in der Stadt am Stintfang hinüber zur Speicherstadt, die mit dem benachbarten Kontorhausviertel und dem Chilehaus seit 2015 Unesco-Weltkulturerbe ist. Vieles ist von Fritz Höger erbaut, der mit seinen ausgeprägten Oberflächenstrukturen und stark gegliederten Fassaden im Stile des Art Déo den Gebäuden eine ganz eigene Anmutung gab («Backsteinexpressionismus»). «Unser Neuschwanstein», wie es der Stadtführer ausdrückte.

Die Sondersammlungen der «Stabi» Hamburg

Durch den Harvesterhuver Weg entlang der Außenalster erreichte der Bus schließlich das nächste Ziel, die Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky (kurz Stabi oder SUB Hamburg). Die Universität ist jung (gegründet 1919), die Bibliothek alt; sie hat ihre Wurzeln in Hamburgs erster öffentlicher, 1479 vom Bürgermeister Hinrich Murmester gestifteten Ratsbibliothek. Aktuell bemisst sich ihr Bestand auf rund fünf Millionen Print- und elektronische Medien.

Aufgeteilt in zwei Gruppen, begann für die Einen die Führung mit einem Vortrag von Dr. Jürgen Neubacher, den Leiter der Abteilung Sondersammlungen, während die Anderen Antje Theise, der Referentin für Seltene und Alte Drucke, in den entsprechenden Lesesaal folgten. Hier standen die Inhalte und die Typografie im Mittelpunkt und – es durfte wieder geblättert werden. Insgesamt 260000 seltene und alte Drucke bis 1900 besitzt die Stabi, darunter 272 Inkunabeln und circa 550 Frühdrucke bis 1530 sowie 5000 Pressendrucke und Künstlerbücher. Rund tausend Inkunabeln sind seit ihrer Auslagerung im Zweiten Weltkrieg verschollen.

«Auch wenn wir kaum Geld haben, so blättern wir doch gerne in Auktionskatalogen», offenbarte Antje Theise. Eine der letzten Neuanschaffungen war 2010 ein Exemplar der Schedelschen Weltchronik; unkoloriert und eigentlich «nicht besonders spektakulär»; jedoch macht die Provinienz die Ausgabe für Hamburg bedeutsam, denn sie stand ursprünglich in der Bibliothek des berühmten Hamburger Gelehrten Michael Richey (1678–1761). Richey war einer der eifrigsten Hamburgensien-Sammler seiner Zeit.

Aus dem 18.Jahrhundert lagen mehrere Ausgaben des Hamburgischen Schreib-Calenders bereit, im handlichen Taschenformat und unterschiedlichsten Einbandversionen, zum Beispiel mit Stift und Schuber. Von den gezeigten Pressendrucken des 20.Jahrhunderts seien hervorgehoben die Farbholzschnitt-Bücher des Hamburger Expressionisten Karl Lorenz (1888–1961), der 1924 in Malente-Gremsmühlen die Turm-Presse gründete. Zu sehen waren etwa William Shakespeare: Helena (1927) und Der Turm des Friedens mit eigener Dichtung (1926).

Etwas trockener geriet der Vortrag über die Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek und ihre Sondersammlungen (empfohlen sei dazu die reichhaltige Website). Herausgegriffen sei einzig die Musiksammlung, und hier speziell die 129 Bände zu rund 60 Opern und Oratorien Händels, darunter solche, die der Komponist einst selbst dirigierte; in diesen Direktionspartituren hinterließ er zahlreiche aufführungsspezifische Bearbeitungsspuren. Die Sammlung umfasst auch rund 25 Musiknachlässe, darunter den Nachlass von Johann Mattheson (1681–1764). Er war Publizist, Übersetzer, Philosoph, Diplomat, Musiktheoretiker und Komponist, kurz: ein Universalgenie. Der Großteil seiner in der Stabi aufbewahrten Werke war seit der Auslagerung im Zweiten Weltkrieg verschollen. 1998 wurden sie aus Jerewan in Armenien zurückgegeben. Eine armenische Austauschstudentin war wegen Mattheson nach Hamburg gekommen; dann stellte sich heraus, dass sich das gesuchte Material in Jerewan befand, wo sie herkam.

«Orchideenfach» Einbandkunst

Am Freitagabend ging es im Tagungshotel noch einmal um Einbände. Ireen Kranz, seit 2015 Erste Vorsitzende der Meister der Einbandkunst (MDE), stellte in ihrem Vortrag neue Arbeiten von Mitgliedern vor und stand anschließend zusammen mit Esther Everding für Fragen zur Verfügung. Beide hatten auch Anschauungsmaterial aus der eigenen Werkstatt mitgebracht.

Der 1923 als Abspaltung des 1912 in Leipzig gegründeten Jakob Krauße-Bundes der deutschen Kunstbuchbinder gegründete MDE hat heute 150 Mitglieder, davon sind 20 bis 25 praktizierende Bucheinbandkünstler. Hinzukommen Kenner, Liebhaber und Förderer. Zehn Kollegen stellte Ireen Kranz vor, darunter Andrea Odametey, die z.B. Japanpapiere einfärbt, sie übereinanderkaschiert und so «verbrettet». Von Claudia Richter zeigte sie William Shakespeares Sonette als Ganzfranzband: rotes Maroquinleder mit Lederauflage, in zwei Farbtönen und Lederstrukturen (genarbt und glatt). Oder Ulrich Widmann, der «es wagt, den Bucheinband direkt mit Farbe zu bemalen».

Ireen Kranz selbst hat 1995 bis 1998 bei Karen Begemann in Hamburg gelernt, ging dann auf die traditionelle Wanderschaft, studierte anschließend bei Mechthild Lobisch an der Burg in Halle (Konzeptkunst Buch) und machte ihren Meister. Sie verriet: «Von der Kunst allein kann ich nicht leben. Ich bin auch Dienstleister.» Für ihre Einbandkunst-Ideen sucht sie sich den passenden Inhalt, Rohbögen bekomme man ganz gut, erklärte sie. Gleichwohl ist das Stoff für Diskussionen, denn normalerweise wird ja umgekehrt die Einbandgestaltung aus dem Inhalt entwickelt. Zu viel Aufmerksamkeit also für die «Verpackung»? Nein, die Einbandkünstler gäben mit Kreativität und handwerklichem Können einem Werk lediglich eine zusätzliche Dimension. Onno Feenders, unseren Zweiten Vorsitzenden, freut’s, hat er doch schon etliche Bücher bei Ireen Kranz binden lassen, auf ganz besondere Weise natürlich.

Auktionshaus Hesse und Barbara Achilles-Stiftung

Der Samstag (28. Mai) begann mit der Mitgliederversammlung. Unter anderem unterrichteten die Erste Vorsitzende Dr. Annette Ludwig und Schriftführerin Silvia Werfel M.A. die Anwesenden von den Plänen für die nächste Zukunft. Dazu gehören ein neuer Werbeprospekt, der nutzerfreundlichere Umbau der Website sowie die Aufwertung der Wandelhalle mit etwas größerem Format und erweitertem Umfang (deren erste Ausgabe Sie hier in Händen halten). Der Schatzmeister RA Michael Then erläuterte die Finanzlage, sie sei geordnet und das nächste Jahrbuch (2017) gesichert. Die Mitgliederversammlung beschloss zudem, das Jahrestreffen 2017 in Dresden abzuhalten. Zwar gibt es hier keine Mitglieder vor Ort, die bei der Programmplanung helfen könnten; es gibt aber bereits Vorschläge und im Vorstand auch eigene Ideen, so dass sicher ein schönes Treffen gelingen wird.

Im Auktionshaus Hesse wurden die Bibliophilen von Christian Hesse und Edith Achilles begrüßt. Gemeinsam mit ihrer Tochter Barbara hat sie eine geradezu legendäre Sammlung mit Pressendrucken des 20.Jahrhunderts, illustrierten Büchern und erlesenen Einbänden aufgebaut. Ihr Besuch in der ersten Auktion von Christian Hesse 2010 war zugleich der letzte gemeinsame von Mutter und Tochter. Die beiden Damen saßen mit Bieternummer eins in der ersten Reihe und erwarben die unter Katalognummer 427 verzeichnete Ausgabe von Heinrich Bölls Du fährst zu oft nach Heidelberg mit den Radierungen von Pravoslav Sovak – es war der letzte Auktionskauf von Barbara Achilles. Im Sommer desselben Jahr verstarb sie im Alter von 63 Jahren. Ihr zum Gedenken und für die Förderung der Buchkunst wurde 2012 die Stiftung ins Leben gerufen.

Der Gastgeber hatte Drucke der Cranach-Presse, der Ernst Ludwig-Presse und des Hyperion-Verlags bereit gelegt. Besonders bemerkenswert: ein Exemplar von Shakespeares Hamlet (Cranach-Presse), das ab Seite 160 mit handschriftlichen Notizen versehen ist und dessen Holzschnitte nur als Bürstenabzüge gedruckt sind. Auch unterscheidet sich der Umbruch von der endgültigen Ausgabe. Hier wurde der Auktionator zum Buchforscher. Er bezeichnete die vorliegende Version des offensichtlich noch nicht fertigen Drucks schließlich als «Dokument der Präzision und Leidenschaft». Der erfahrene Meister-Drucker Carl Ernst Poeschel habe nach Aussage Harry Graf Kesslers wegen der Kompliziertheit von Satz und Umbruch eine schlaflose Nacht verbracht …

Aus der von Friedrich Wilhelm und Christian Heinrich Kleukens gegründeten Ernst Ludwig-Presse lag unter anderem Das Buch Esther (1908) bereit, mit dem bekannten Doppeltitel von Friedrich Wilhelm Kleukens, gebunden in grünes Kalbleder mit hellen Wildseidevorsätzen – ein federleicht-weicher Handschmeichler. Wegen des opulenten Doppeltitels gab es jedoch heftige Diskussionen zwischen den Brüdern. Die Auffassungen über Buchgestaltung waren unterschiedlich; nach 1918 gingen sie denn auch getrennte Wege.

Aus dem Hyperion-Verlag Hans von Webers sei Thomas Manns Tod in Venedig hervorgehoben, 13. Hundertdruck (1912) und die erste Anwendung der Tiemann-Kursiv für den gesamten Text. Der bevorzugte Buchbinder des kunstbegeisterten Verlegers war übrigens der an anderer Stelle schon erwähnte Carl Sonntag jun.

Über Die Pressen der Brüder Kleukens ist 2015 ein 80-seitiger, reich bebilderter Katalog erschienen, herausgegeben vom Verband Deutscher Antiquare e.V. und der Barbara Achilles-Stiftung. Viele Tagungsteilnehmer nutzten die Gelegenheit, die schön gemachte Broschur zu erwerben.

Wolfgang gießt und Artur setzt …

Nach dem Mittagessen in der T.R.U.D.E. am Museum der Arbeit, draußen bei schönstem Sonnenschein, wurden die Bibliophilen in der Druckabteilung des Museums in die Geheimnisse der Schwarzen Kunst eingeweiht. Zunächst begrüßte Prof. Dr. Rita Müller, die Direktorin des Museums, die Gäste, dann übernahm der Setzer-Meister und Holzschnittkünstler Artur Dieckhoff gut gelaunt das Kommando. An mehreren Stationen erwarteten die Freiwilligen der Grafischen Abteilung die Besucher und führten die alten Handwerkstechniken des Buchdruckgewerbes vor. Der über neunzigjährige Wolfgang Frenzel goss mit dem Handgießinstrument einzelne Schrifttypen, andere Kollegen, darunter Artur Wiener, der wahrscheinlich letzte Schriftsetzer- und Druckerlehrling hierzulande, erklärten den Hand- oder Maschinensatz und das Drucken mit der Tiegeldruck- oder der Schnellpresse. Man durfte den Handwerkern über die Schulter schauen, Fragen stellen und an jeder Station auch etwas Gedrucktes mitnehmen. Für kleines Geld konnte man Arturs grafische Wundertüte erstehen, jede ein bisschen anders bestückt, mit Originalgrafiken und Schriftmustern.

Festabend mit Überraschungsgast und Festvortrag im Warburg-Haus

«Der Altersstruktur des Vereins angemessen, treffen wir uns hier natürlich im Jugendstilsaal.» Mit einem Augenzwinkern begann Dr. Annette Ludwig, Erste Vorsitzende der GdB, abends im Tagungshotel ihre Festrede. Es folgte ein kleiner literarischer Streifzug durch Hamburg, an dessen Ende sie als Überraschungsgast und Gastredner den renommierten Rechtsanwalt Joachim Kersten begrüßte. Sein Schwerpunkt ist das Urheberrecht (insbesondere das digitale), darüber hinaus wirkt er als glänzender Vermittler der Gegenwartsliteratur; etliche künstlerische Nachlässe sind ihm anvertraut, darunter diejenigen von Peter Rühmkorf und Arno Schmidt.

Festlich ging es am Sonntag (29. Mai) im außergewöhnlichen Ambiente des Lesesaals im Warburg-Haus weiter. Den Festvortrag über Alte Seekarten aus dem Nordwesten hielt Michael Recke. Schon im zarten Alter von zehn Jahren faszinierten ihn Seekarten. Im Laufe des Lebens entwickelte er sich dann vom «gierigen Sammler zum wissbegierigen Forscher». Nicht von ungefähr ist er seit 2009 Vorsitzender des Freundeskreises für Cartogaphica in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz e.V.

Historische «Seekarten sind Zeugen einer wechselvollen Geschichte der Seefahrt» und zugleich «schöne grafische Kunstwerke». Was er einleitend sagte, belegte Michael Recke umgehend mit Bildmaterial. Weiße Flecken wurden liebevoll mit Seeschlachtgetümmel, Meeresungeheuern oder Fabelwesen gefüllt, Unwesentliches wie Details vom Landesinneren dagegen weggelassen. Für Seefahrer sind naturgemäß die Küstenbereiche und die Beschaffenheit des Meeresboden wichtiger. Gefahr lauerte ja weniger auf hoher See als in Küstennähe, zum Beispiel durch Untiefen und Sandbänke.

Seit dem Ende des 13.Jahrhunderts sind sogenannte Portolankarten überliefert, die zunächst vorwiegend die Küstenlinien des Mittelmeers und des Schwarzen Meeres darstellten, äußerst detailreich und grafisch ansprechend. Im Nord- und Ostseeraum gab es solche Karten zu dieser Zeit noch nicht. Die Seefahrer arbeiteten hier mit Lot und Kompass und mit leeskaerten, also mit Kursbeschreibungen in Textform, die lange Zeit mündlich weitergegeben, ab dem 15.Jahrhundert vermehrt aufgeschrieben und schließlich auch gedruckt wurden. Ein Beispiel dafür ist das Kleine zeekaert-boeck von Govert Willemszoon van Hollesloot, das unter dem Titel Die Caerte vande Oost ende West Zee 1588 in Harlingen als Druck erschien.

Obwohl Lucas Janszoon Waghenaer gegen Ende des 16.Jahrhunderts einen neuen Typ Segelhandbuch mit Seekarten im Kupferstich herausbrachte, bevorzugten die Kapitäne und Steuerleute damals weiterhin die gewohnten Segelanweisungen mit viel Text und den typischen Seitenansichten. Ab 1650 kamen die ersten reinen See-Atlanten heraus, etwa von Hendrik Doncker; diese teils prächtig kolorierten Exemplare waren allerdings eher für Landratten gedacht als für die Nutzung auf See …

Mehr Land- als Seeratten saßen wohl auch im Auditorium; sie erfreuten sich an den grafisch schönen historischen Karten und auch an den eingestreuten Geschichten des Sammlers. Eine ging so: Er lernte bei einem Auftritt in Dr. Götzes Landkartenhandlung am Alstertor in Hamburg den Firmeneigentümer Herrn Vladi kennen und entdeckte beim Gang zu dessen Büro an der Wand eine faszinierende Karte der Shetland-Inseln, die bereits nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt war. Nach kurzem Zögern erklärte Herr Vladi sich bereit, sie zu verkaufen, und «während ein Angestellter sie um 23 Uhr von der Wand abschraubte», erklärte er, «dass diese Karte eigentlich eine Beigabe sein sollte zu einer der Shetland-Inseln, die ein Multimillionär von ihm gekauft hatte, denn Herr Vladi ist Inselhändler. Nun ergab es sich, dass er auch hiermit noch Geld verdienen konnte und das gefiel ihm.» Den Sammler hat’s ebenfalls glücklich gemacht.

«Arena der Wissenschaften» – interdisziplinär

Nach dem Mittagessen, grüppchenweise in nächster Umgebung, traf man sich zur Führung durch das Warburg-Haus. K.B.W. – diese drei aus Klinker gebauten Buchstaben an der Fassade des schmalen Gebäudes in der Heilwigstraße 116 weisen den Weg in die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ – die innen über der Eingangstür eingemeißelten grazilen griechischen Versalien zeigen, wer den Gründer leitete: die griechische Göttin Μνημοσύνη war’s, Göttin der Erinnerung und Mutter der neun Musen. Aby Warburg (1866–1929), der legendäre Hamburger Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, dessen 150. Geburtstag am 13. Juni gefeiert wurde, erforschte unter anderem, wie antike Vorstellungswelten ins kollektive Bildgedächtnis und die Kunst der Neuzeit Eingang fanden. Zu seinen Untersuchungsgegenständen gehörten aber nicht nur historische Gemälde und Druckgrafik, sondern auch Bilder aus den Zeitungen und Illustrierten seiner Zeit. Zu Schlagzeilen sollten sich Schlagbilder gesellen. Mit Aby Warburg begann die Bildwissenschaft.

In der schmalen Baulücke neben seinem Wohnhaus in der Heilwigstraße 114 ließ der Architekt Gerhard Langmaack 1925/1926 einen nach den ausgeklügelten Vorgaben des Auftraggebers maßgeschneiderten Tempel der Wissenschaften entstehen. Aus der Privatsammlung wurde so eine (halb)öffentliche Einrichtung, zu jeder der vier Etagen hatte der Gründer vom Wohnhaus nebenan direkten Zugang. Die Ausstattung war hochmodern: es gab 28 Telefone, professionelle Reproduktions- und Projektionsanlagen und statt quietschender Bücherwägelchen Rohrpost und einen Bücherfahrstuhl. Die Aufstellung der Bücher nach dem «Prinzip der guten Nachbarschaft» kartografiert Aby Warburgs besondere Denkwege. Er brauchte sie als Arbeitsmittel und Quellen zur Bild-Entschlüsselung. Gleichwohl umfasste seine Bibliothek 1933 bei der Verschiffung nach London 60000 Bände. Aby Warburg selbst war schon 1929 verstorben; seine Mitstreiter Fritz Saxl und Gertrud Bing führten seine Arbeit in England fort. Das Haus in der Heilwigstraße übernahm 1992 die Stadt Hamburg, es wird von der Aby-Warburg-Stiftung betrieben und ist weiterhin ein Ort der Forschung und kulturellen Begegnungen.

Dr. Katharina Hoins, wissenschaftliche Koordinatorin am Warburg-Haus, weihte die Besucher beim Rundgang in einige Geheimnisse ein und erlaubte auch einen Blick in ihr Büro: hier arbeitet sie an dem Schreibtisch, an dem in den 1920er Jahren schon der Kunstwissenschaftler Erwin Panofski (1893–1968) gesessen hat …

Reise erst in die Zukunft, dann in die Vergangenheit

Der Exkursionstag bot ein Kontrastprogramm. Vormittags war das Ziel BoD – Books on Demand GmbH in Norderstedt. Hier wurden die Bibliophilen von Thorsten Simon empfangen. Sein Einführungsvortrag über die rasante Entwicklung des Selfpublishing mittels Book on Demand (auch Print on Demand, Druck erst bei Bestellung) mündete in eine lebhafte Diskussion, zu der Prof. Dr. Klaus G. Saur einige schöne Geschichten beisteuerte. Festgehalten sei: seit den Anfängen in den 1990er Jahren hat sich nicht nur die Digitaldrucktechnik enorm weiterentwickelt, sondern auch die Szene der Selfpublisher. Rund 30000 Autoren und über 2000 Sachbuch- und Belletristikverlage arbeiten inzwischen mit BoD zusammen. Ein Trend hin zur Professionalisierung zeichnet sich bei den Autoren ab, diese investieren zunehmend in professionelle Unterstützung aus dem Serviceteam, also in Umschlaggestaltung, Lektorat, Korrekturlesen etc.. Drei Autorengruppen kristallisieren sich heraus: Hobby- (49 %), Berufs- (12 %) und Expertenautoren (39 %), die letzten beiden Gruppen mit unternehmerischem Interesse.

Die Qualität von Ausstattung und Typografie der im Vortragsraum zu begutachtenden Titel war recht unterschiedlich, die Themenpalette weit gefächert. Waren Bestseller darunter? Mit dem Titel Natural Dog Food habe die Autorin ihr Einfamilienhaus finanziert, berichtete Thorsten Simon … Die Führung durch die Produktionshallen übernahm er anschließend zusammen mit Jörg Zaag und Corinna Wolff. – BoD versteht sich als Dienstleister, und wer weiß, ob nicht in naher Zukunft einige Bibliophile diese Dienste in Anspruch nehmen … Die aktuelle Europäische Self-Publishing-Studie 2016 steht unter www.bod.de/studie zum freien Download bereit, mit Zahlen zu Entwicklungen und Trends.

Die letzte Exkursionsstation war Glückstadt. Zum Mittagessen ging es in den für seinen Matjes berühmten Kleinen Heinrich, wo die Berichterstatterin gleich unangenehm auffiel: zum Entsetzen ihres Tischnachbarn bestellte sie Spargel mit Hering natur … Was auch immer bestellt wurde, alle wurden lecker satt. Anschließend begleiteten Artur Dieckhoff und Klaus Raasch, Künstler-Drucker, Verleger und ebenfalls im Museum der Arbeit aktiv, die Gruppe zur Druckerei J. J. Augustin. Räumlichkeiten im Dornröschenschlaf erwarteten die Besucher hier – Zeitreise in die Vergangenheit der Bleisatz-Ära. Die seit 1632 bestehende Druckerei erlangte in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts internationale Bedeutung. Mit ihren Monotype-Setzmaschinen spezialisierte sie sich auf wissenschaftlichen Satz in allen nur erdenklichen lebenden und auch toten Sprachen. Der von Heinrich Wilhelm Augustin konzipierte Chinesische Setzzirkel wurde in den 1920ern zum Alleinstellungsmerkmal: er ermöglichte das rationelle Setzen aus einem Fundus von über 12000 chinesischen Schriftzeichen auch für Sprachunkundige und ohne meterlange Setzregale. Hinzukommt die Geschichte mit Jimmy Ernst. Heinrich Wilhelm Augustin nahm den Sohn der jüdischen Kunsthistorikerin Louise Straus und des surrealistischen Malers Max Ernst 1935 als Schriftsetzerlehrling auf und verhalf ihm 1938 zur Emigration in die USA.

Die traditionsreiche Druckerei verlor mit Aufkommen von Fotosatz und Desktop-Publishing – trotz Modernisierungsmaßnahmen – ihre einstige Bedeutung. Seit Jahrzehnten ruhen die Maschinen. Seit 2010 engagiert sich Artur Dieckhoff ganz besonders für Erhalt und Wiederbelebung der alten Schätze. Daraus resultieren der preisgekrönte Film Zwiebelfische. Jimmy Ernst. Glückstadt – New York (2010, mit Christian Bau) sowie ein Katalogbuch und Ausstellungen im Hamburger Museum der Arbeit und im Mainzer Gutenberg-Museum.

Das Schicksal des denkmalgeschützten Gebäudes mitsamt Maschinenpark war jahrelang ungewiss. Seit Oktober ist es nun amtlich: die Inhaber Cornelia und Michael Reimers, die beim Bibliophilen-Besuch ebenfalls anwesend waren, wollen das Museumsprojekt auf eigene Verantwortung (und Kosten) stemmen, unterstützt von engagierten Fachleuten. Möge das Vorhaben gelingen! – Mit diesem hoffnungsfrohen Ausblick schließt der Tagungsbericht.