Ein Bericht von Peter Neumann
In diesem Jahr konnte die Maximilian-Gesellschaft mit einem Festakt ihr hundertjähriges Bestehen im Gründungsort Berlin unter hoher Beteiligung feiern. Wenn unsere um über mehr als ein Jahrzehnt ältere Gesellschaft sechs Wochen danach ebenfalls zu ihrem Ursprung zurückkehrte, bewies sie damit, dass beide bibliophile Vereine trotz unterschiedlicher Intentionen gemeinsame Wurzeln haben. Wir konnten diesmal stillschweigend als Jubiläum die hundertste Jahresversammlung vorweisen, wobei Berlin als Tagungsstätte zuletzt vor genau vierzig Jahren, insgesamt aber achtmal gewählt worden war und mit diesem Spitzenwert knapp Leipzig übertrifft. Es war endlich wieder die ungeteilte Hauptstadt, nicht der isolierte Westteil wie bei den zwei vorhergehenden Zusammenkünften in der Nachkriegszeit. Zur veränderten Situation passte das Tagungshotel der amerikanischen Park Plaza-Gruppe, in der ruhigen Wallstraße gelegen, nahe dem Nikolai-Viertel und also dem mittelalterlichen Kernbereich, unweit des Schlossplatzes und der Straße Unter den Linden, dem alte Zentrum in königlicher und kaiserlicher Zeit. Die unvermeidlich langen Wege waren gewöhnungsbedürftig, die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln umständlich, doch in einer Millionenmetropole nun einmal unumgänglich. Vorbereitete Stadtpläne und Listen der Verkehrsverbindungen erleichterten das Zurechtfinden.
Der Begrüßungsabend (Donnerstag, 24.6.) fand sinnigerweise gleich in einer urwüchsigen alt-berliner Wirtschaft mit Lokalkolorit statt: bei «Julchen Hoppe» in der Rathausstraße. Der Vorsitzende Prof. Dr. Reinhard Wittmann konnte dort die diesmal überschaubare Schar der rechtzeitig angereisten Teilnehmer begrüßen, deren Zahl sich am folgenden Tag doch noch auf 39 Köpfe erhöhte, eigentlich eine ungewohnt niedrige Zahl. Erfreulich aber, dass einige jüngere Mitglieder dabei waren. Gewürdigt wurden die vom Ehepaar Feenders ganz allein und umsichtig getätigten Vorbereitungen, die nicht zuletzt durch eine bis jetzt noch unübersichtliche Stadt erschwert waren, weil jahrzehntelang getrennte Teile zusammenwachsen, Institutionen sich neu orientieren müssen. Reparaturarbeiten, Auf- und Ausbau überall.
Eine imponierende Baustelle lernte man hautnah gleich am ersten Tag (Freitag 25.6.) kennen: die von Gerüsten außen wie inwendig fast unsichtbar gewordenen Wände der Staatsbibliothek Unter den Linden, auf dem Weg dorthin der von Baggern aufgewühlte Schlossplatz. Durch Entgegenkommen der Direktion war trotzdem eine exklusive Führung durch den umfänglichen, jetzt von Handwerkern beherrschten Gebäudekomplex möglich, in dem nur ein Notbetrieb aufrecht erhalten wird. Der Blick auf den noch unfertigen, vom Architekten Merz neu gestalteten zentralen Lesesaal, auf die durch doppelte Verschalung gegen Grundwasser gesicherten Tresorräume tief unter ihm sowie auf die schon renovierten Teilbereiche ließen die bessere Zukunft für Verwalter wie für Nutzer dieses gewaltigen Bücherspeichers ahnen. Am Nachmittag begrüßte Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf die Gäste, die zuständigen Kuratoren zeigten und erläuterten vier vorbereiteten Ausstellungen, die in einer Auswahl ältere und jüngere Bestände des Hauses repräsentierten. Zu sehen waren 16 Aldinen, jene Klassikerausgaben des Venezianers Aldus Manutius aus dem 15. und 16. Jahrhundert, teilweise in Prachteinbänden. Gleich in das 20. Jahrhundert führten neuere Drucke antiker Texte, entstanden in der Cranach- und Bremer Presse oder veranstaltet vom Askanischen Verlag, illustriert von Künstlern wie E. R. Weiss und Renée Sintenis, Aristide Maillot oder Richard Seewald. Über die fast unbekannten «Mumiendrucke» von Carl M. Seyppel wird im nächsten Imprimatur-Band mehr zu erfahren sein. Wie sehr die Reformansätze durch arts and crafts und den Jugendstil Anfang des letzten Jahrhunderts die Buchkunst befördert haben, bewiesen Beispiele nicht nur englischer und deutscher Privatpressen, sondern auch seinerzeitiger Druckarbeiten aus Italien, Russland und Polen. Die weitere Entwicklung ließ sich durch die Zeitschrift Gazette du bon ton verfolgen, die zwischen 1912 und 1925 von Cassirer in Paris und Berlin herausgegeben wurde. Zeugnisse der jüngsten Vergangenheit waren Exempel der in kleinsten Auflagen seit 1980 erschienenen DDR-Untergrundliteratur.
Den Tag beschloss in der Kunstbibliothek am Matthäikirchplatz ein etwas trockener Vortrag von Dr. Anita Kühnel über die oft unterschätzte Bedeutung der von 1900 bis 1905 existierenden Steglitzer Werkstatt, deren Gründer Fritz Hellmut Ehmcke, Friedrich Wilhelm Kleukens und Georg Belwe sehr früh großen Einfluss auf die neuere Entwicklung der Schriftgestaltung und Ornamentik sowie der Typographie im Ganzen hatten, später als Kunsthandwerker und Lehrer auch anderswo. In der Überwindung des üppig geratenen Jugendstils und in der Findung neuer Ausdrucksformen hatten sie sich vor allem den Akzidenzdruck vorgenommen, die Verbesserung der Werbe- und Geschäftsdrucksachen. Die gezeigten originalen Muster ließen es erkennen. Man hätte sich bei anderer Gelegenheit weitere Informationen über wichtige Initiativen Berliner Verleger und Künstler in jener Zeit gewünscht.
Mit der Mitgliederversammlung im Tagungshotel begann der zweite Tag (Samstag, 25.6.). Gedacht wurde des verstorbenen Ehrenmitglieds Dr. Lotte Roth-Wölfle, berichtet von der stabilen Mitgliederzahl auf wenig befriedigendem Niveau – 20 Neuzugängen standen 18 Austritte oder Todesfälle entgegen. Erfreulicherweise nahmen auch einige jüngere und neue Mitglieder an der Tagung teil. Behandelt wurden nochmals Überlegungen zu Werbemaßnahmen, die schon am Abend zuvor in zwangloser Runde unter Leitung des Vorsitzenden beraten worden waren. Geworben wurde im Berichtsjahr auf der Antiquariatsmesse in Stuttgart oder während der Buchmesse in Frankfurt/Main. Solche Dienste einzelner Mitglieder sind weiterhin wünschenswert. Auf Antrag von Arno Piechorowski wurde für Mitglieder unter 30 Jahre ein ermäßigter Beitragssatz festgesetzt, Dr. Hans Stula regte Prämien für die Werbung neuer Mitglieder an. Der neue Band des von Prof. Dr. Ute Schneider herausgegebenen Jahrbuchs Imprimatur, auf die unterschiedlichsten Sammelgebiete abgestellt und erneut in vorbildlicher Ausstattung, konnte den Anwesenden ausgehändigt werden, ein aktualisiertes Mitgliederverzeichnis wurde zum Jahresende angekündigt, eine Neugestaltung der Homepage ist vorgesehen. Als nächster Tagungsort ist Mainz bestimmt. Dem Vorstand wurde Entlastung erteilt, als neue Ehrenmitglieder wurden einstimmig unsere treuer Begleiter seit sechzig Jahren, das Zürcher Verleger-Ehepaar Hans Rudolf und Alice Gertrud Bosch-Gwalter (Kranich-Presse in Zollikon) gewählt.
Im weiteren Verlauf des Tages überraschte in der Staatsbibliothek Unter den Linden der Leiter der Kartenabteilung, Bibliotheksdirektor Wolfgang Crom, mit ausgelegten alten Landkarten, Pläne und Globen, die von ihm sehr lebendig in einem kurzweilig-lehrreichen Vortrag erläutert wurden und einzeln betrachtet werden konnten. Nicht möglich war es allerdings, im 125 kg schweren Kurfürsten-Atlas von 1663 zu blättern, die Außenansicht der Vorderseite musste genügen. Ein aufschlussreicher Streifzug durch die Geschichte der Kartographie. Am Nachmittag wurde die ehemaligen Maschinensetzerei Peter von Maikowski in der Wiener Straße im Bezirk Kreuzberg aufgesucht, die ehemalige Hausdruckerei der Friedenauer- und Mariannen-Presse. Heute wird die Werkstatt vom Drucker Harald Weller und Kupferdrucker Dieter Bela weitergeführt und von Künstlern wie Felix Martin Furtwängler genutzt, auch von Horst Hussel für die Drucke seiner Dronte-Presse und vor allem von Henrik Liersch für seine Corvinus-Presse.
Am Abend schloss sich das traditionelle Festessen im Hotel an, diesmal auf engem Raum, doch deshalb für Gespräche über die Tische hinweg umso besser geeignet. Traditionell zitierte Prof. Wittmann aus älteren Reiseberichten Lob und Kritik der Stadt an der Spree von Besuchern. Arno Piechorowski überreichte wie gewohnt als Damenspende einen Sonderdruck der anscheinend unsterblichen Aldus-Presse Reicheneck: Friedrich Gilly. Die Entfaltung geistiger Größe. – dem früh verstorbenen Berliner Architekten, dem Lehrer Karl Friedrich Schinkels gewidmet. Christa und Onno Feenders stifteten einen kleinen Druck mit dem Gedicht Das Buch von Robert Gernhardt. Anschließend zeigten vier geladene junge Buchbinderinnen aus Leipzig, Halle und Berlin, allesamt Mitglieder der MdE, von ihnen gestaltete Handeinbände.
Der Festvortrag am Sonntag (26.6.) machte zunächst mit dem Literaturhaus in der Fasanenstraße bekannt, wenige Schritte vom Kurfürstendamm entfernt. Dort sprach dann die Stellvertretende Bibliotheksdirektorin Michaela Scheibe über die gerade 350 Jahre alt gewordene Staatsbibliothek zu Berlin, erwachsen aus der Churfürstlichen Bibliothek zu Cölln, vermehrt als spätere Königlich preußische Bibliothek und sich schließlich als Staatsbibliothek Berlin ausdehnend, heute der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zugehörig. Geschildert wurden dieser Werdegang und ihr heutiger Zustand, verurteilt dazu, die nach 1990 zusammengeführten Bestände mit insgesamt 11 Millionen Bänden auf die beiden weiter bestehenden Häuser innerhalb der Stadt zweckhaft zu verteilen. Dargestellt wurden die Probleme der heute erforderlichen Digitalisierung und der erwarteten künftigen Dienstleistungen in einer Zeit, wo die Printmedien sich gegenüber anderen Informationsquellen behaupten müssen. Am Nachmittag traf man sich auf dem Berliner Antiquariatstag im Hotel Ellington oder in einem der vier Häuser auf der Museumsinsel. Zu sehen gab an beiden Standorten genug.
Die Montag-Exkursion (25.6.) führte diesmal nicht weit: wieder zum Kulturforum in der einst westlichen Stadthälfte nahe des Potsdamer Platzes. Im Kupferstichkabinett hatte Direktor Prof. Dr. Heinrich Schulze Altcappenberg für die Gäste vier Themenkreise grafischer Künste ausgewählt und mit hervorragenden Beispielen bestückt. Seine jeweils zuständigen Mitarbeiter bemühten sich um weitergehende Auskünfte. Zunächst waren Bücher der Frühdruckzeit an der Reihe, von Albrecht Dürer war ein Holzschnitt-Abzug und der dazugehörige Original-Druckstock aus der Sammlung Derschau zu sehen. Es folgten vom Stil der Renaissance geprägte Bücher, etwa der 1499 von Aldus Manutius gedruckte Roman Hypnerotomachia Poliphili des Franciscus Colonna mit seinen Umrissholzschnitten. Aus dem 17. Jahrhundert stammte die Folge der radierten Selbstbildnisse Rembrandts, die ihm als Studien für menschliche Ausdrucksweisen dienten. Bemerkenswert das Silberstiftporträt seiner Frau Saskia. Als Vertreter moderner Buchkunst wurden bevorzugt Ernst Ludwig Kirchner mit seinen Holzschnitten zu Georg Heyms Umbra Vitae (1912) sowie der noch lebende Zeitgenosse Gerhard Altenbourg in seinem «phantastisch-realistischen» Stil herausgestellt. Auch ein Malerbuch wie Jazz von Henri Matisse sei erwähnt.
Am späten Nachmittag war ein kleiner Kreis sodann erneut in der Kunstbibliothek nebenan zu Gast, wo nach der Begrüßung durch den Direktor, Prof. Dr. Moritz Wullen, von Dr. Lailch eine Reihe berühmt gewordener Proben der Buchkunstbewegung vor hundert Jahren zur eingehenden Betrachtung ausgewählt worden waren: Drucke der englischen Kelmscott- und Doves-Presse, der deutschen Bremer Presse und Ernst-Ludwig Presse, oder weltberühmte illustrierte Werke wie die Bilder von Joseph Sattler zu den Nibelungen, Aubrey Vincent Beardsley zur Salome, Thomas Theodor Heine zu Wälsungenblut bewiesen. Eine Augeweide zum Abschluss.
Die Tagung stand im Zeichen vieler bekannter und manch unbekannter Bücherschätze, die bei gleichzeitig sachkundiger Unterrichtung von jedem eingehend studiert werden konnten, wobei diesmal gerade auch die Moderne zu ihrem Recht kam. Genügend Zeit blieb für eigenständige Entdeckungen außerhalb des Programms, das für den geschrumpften Kreis der Unermüdlichen nach all den Höhenflügen in schwäbischer Genügsamkeit im kleinen Restaurant «Maultasche» in der Charlottenstraße endete. Abschied bis zum Wiedersehen im nächsten Jahr.