Jahresversammlung 2005 in Göttingen

Ein Bericht von Peter Neumann

In diesem Jahr hatte die Gesellschaft der Bibliophilen für ihre 106. Jahresversammlung in den letzten Maitagen die niedersächsische Universitätsstadt Göttingen ausgesucht, genau siebzig Jahre nach ihrem dortigen ersten Besuch, damals eingeladen von der längst nicht mehr existierenden Vereinigung Göttinger Bücherfreunde. Den angereisten fünfzig Teilnehmern wurde das gewohnte abwechslungsreiche Programm geboten, in dem neben Besichtigungen und Vorträgen auch Stunden anregenden Gedankenaustauschs vorgesehen waren. Der erste Tag (27.5.) begann mit einer sachkundigen Führung durch die vom Wall umschlossene Innenstadt mit ihren mittelalterlichen Fachwerkfassaden, der Jacobi-Kirche und ihrem spätgotischen Doppelflügelaltar, vorbei an Universitätsbauten und Professorenhäusern des 18. und 19. Jahrhunderts, endend in der großen Halle des zinnenbewehrten Alten Rathauses, wo Bürgermeister Gerhardy die bibliophilen Gäste willkommen hieß.

Am Nachmittag ging es zur Sache: In der Historischen Universitätsbibliothek der 1737 gegründeten Georgia Augusta machten Dr. Helmut Rohlfing und Dr. Joachim Migl mit kostbaren Schätzen dieser großartigen Büchersammlung bekannt. Heute umfaßt sie insgesamt 4,5 Mio. Bände und zählt damit zu den Großen unter den Hochschulbibliotheken. Im Altbestand befinden sich 10 000 Handschriften, 3100 Inkunabeln sowie 13 000 wertvolle und seltene Drucke, darunter eine der vier weltweit erhaltenen vollständigen Gutenberg-Bibeln auf Pergament, auch ein Musterbuch zur Ausmalung der frühen Drucke jener Zeit. Dank ihres reichen Bestandes an Büchern des 18. Jahrhunderts ist die Bibliothek zuständig für die Sammlung deutscher Drucke dieses Zeitraums im Rahmen der virtuellen Deutschen Nationalbibliothek. Im Forschungslesesaal sind hunderttausende Bände des 18. Jahrhunderts frei zugänglich, erschlossen werden sie im Digitalisierungszentrum.

Am Abend berichtete Klaus Hübner über die Nebentätigkeit eines Göttinger Gelehrten, nämlich Georg Christoph Lichtenberg. Der bis heute lebendig gebliebene Naturwissenschaftler und Publizist hatte ganz im aufklärerischen Sinne von 1778 bis 1799 den Göttinger Taschen-Calender herausgegeben. Vorbereitend dafür war den Tagungsteilnehmern das Bändchen Dieses ephemerische Werckchen von Günter Peperkorn (1992) ausgehändigt worden, in dem dieses frühe populärwissenschaftliche Periodikum gewürdigt wird.

Druckerei Hubert & Co. und Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek

Nach diesem gelungenen Auftakt begann der zweite Tag (28.5.), wie vorher und nachher begünstigt von strahlendem Sonnenwetter, mit der Mitgliederversammlung. Der Vorsitzende Prof. Dr. Reinhard Wittmann (München) konnte berichten, dass die Mitgliederzahl konstant geblieben und das regelmäßige Erscheinen des Jahrbuches Imprimatur weiterhin gewährleistet ist – der pünktlich vorliegende Band XIX der Neuen Folge (2005) wurde während der Tagung den Anwesenden übergeben. Die turnusmäßige vorgenommene Neuwahl des Vorstandes bestätigte die bisherigen Amtsinhaber: neben dem genannten Vorsitzenden Dr. med. Onno Feenders (Emden) als 2. Vorsitzenden, RA Michael Then (München) als Schatzmeister und Bernd Oetter (St. Augustin) als Beisitzer. Neu gewählt wurde PD Dr. Ute Schneider (Mainz) als Schriftführerin.

Ein Bus brachte die Versammlung anschließend zur Druckerei Hubert & Co., die zum ortsansässigen Verlag Vandenhoeck & Ruprecht gehört und daher speziell wissenschaftliche Bücher für das eigene Haus und für Fremdverlage produziert. Ein Rundgang zeigte, wie heute an PC- und Scanner-Arbeitsplätzen die Übernahme und Aufbereitung der Texte und Abbildungen erfolgt, wie Offset-Druckmaschinen und Bindestraßen für die Verarbeitung selbst kleiner Auflagen eingerichtet sind, wie die fertigen Hard- oder Softcover-Bücher verpackt und auf Hochregalen gelagert werden. Dr. Dietrich Ruprecht berichtete sodann von der 270jährigen Geschichte des Verlages, den der Holländer Abraham Vandenhoeck gründete und den Carl Friedrich Günther Ruprecht 1787 übernahm, dessen Nachkommen seither in der siebten Generation die Firma besitzen und leiten. Er zeigte Raritäten aus dem Verlagsarchiv, darunter bedruckte und gefalzte Rohbogen aus dem 18. Jahrhundert. Neben einer Broschüre zur Verlagsgeschichte erhielt jeder Besucher eine ausgebundene Bleisatzform mit seinem Namen und seiner Anschrift als Erinnerungsgabe.

Im Neubau der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek war ein gekühlter Raum an diesem besonders heißen Tag für zwei Vorträge bereitgestellt. Peter Neumann sprach über den Sammler und Bibliographen Otto Deneke (1875–1956), der seine Bücher als Forschungsmittel verstand und nutzte. Ausgehend von der Versteigerung seiner Bibliothek im Jahre 1909 wurde die zeitgenössische Vorliebe für Originalausgaben deutscher Autoren der klassischen und romantischen Epoche dargestellt, die Verdienste gerade dieses Göttinger Bibliophilen für deren Sichtung und bibliographische Erfassung anerkannt, dessen Funde und Nachforschungen für die kritischen Editionen der Literaturwissenschaft hilfreich waren. Anschließend zeigte Dr. Hans Stula mit Lichtbildern Göttinger Stammbuchkupfer und kommentierte jene Blätter, die zwischen 1750 und 1830 nach dem Vorbild des Adels bei den Studenten mit Eintragungen ihrer akademischen Freunde und Lehrer als Erinnerung an ihre Studienzeit beliebt waren. Anfangs mit Schmuckleisten geziert, später zusätzlich durch Ansichten der Stadt und ihrer Ausflugsziele oder Landschaften von ortsansässigen Kupferstechern ergänzt, wurden sie seit 1780 als Einzelblätter in Schubern aufbewahrt.

Festabend und zahlreiche Gaben

Der Festabend vereinte die Bibliophilen in Gebhards Hotel in der Goethe-Allee. Eingefunden hatte sich als auswärtiges Mitglied auch Dr. Roland Folter aus New York mit seiner Gattin. Reich war diesmal die Zahl der Gaben: von Arno Piechorowski als 110. Ausgabe seiner Aldus Presse die Anmerkungen zu Göttingen von Heinrich Heine am Beginn seiner Harzreise von 1824, mit zwei Holzschnitten von Alfred Pohl und einem Nachwort von Jens Jenßen, der den Druck den Mitgliedern gespendet hat; vom Ehepaar Bosch-Gwalter als 124. Kranich-Druck ein Faksimile des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben nach der in der Fondation Martin Bodmer aufbewahrten Handschrift; vom Steidl-Verlag der Gedichtband Jahre mit Windrad von Harald Hartung, gestaltet von Klaus Detjen; von Dr. Werner Grebe die voluminöse Festschrift für Rudolf Juchhoff von 1959 Aus der Welt des Bibliothekars. Schließlich wurden jedem Anwesenden von Dr. Hans Stula ein originales Stammbuchblatt Göttinger Provenienz und von Peter Neumann ein Holzstich-Exlibris von Andreas Brylka überreicht.

Festvortrag und Exkursion

Den sonntäglichen Festvortrag (29.5.) in der seit 1812 mit Bücherregalen ausgestatteten gotischen Paulinerkirche, einst Teil des Dominikanerklosters und dann erste Unterkunft der Universität und ihrer Bücher, hielt Bibliotheksdirektor Prof. Dr. Dr. h.c. Elmar Mittler, der sich sowohl der Tradition wie den Zukunftsaufgaben verpflichtet fühlt. Dank der weitsichtigen Förderung durch den ersten Kurator Gerlach Adolph von Münchhausen und durch die systematischen, universal ausgerichteten Erwerbungsgrundsätze entstand im 18. Jahrhundert rasch die erste moderne wissenschaftliche Gebrauchsbibliothek mit Vorbildcharakter. Zu den heutigen Dienstleistungsfunktionen gehören die Digitalisierung, das elektronische Publizieren und die Langzeitarchivierung, daneben Ausstellungen und Veranstaltungen.

Am Nachmittag erfreute in der ehemaligen Villa eines Textilfabrikanten, heute Sitz des Goethe-Instituts, der junge Pianist Mikhail Mordvinov mit klassisch-romantischen Klavierstücken.

Ziel der traditionellen Exkursion am Montag (30.5.) war diesmal das ehemalige Kloster und jetzige Schloß Corvey bei Höxter an der Weser, heute Sitz des Herzogs von Ratibor und Fürsten von Corvey. Die Bibliothek birgt in einer beeindruckenden Raumfolge 67.000 Bände des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus dem Besitz der Landgrafen Hessen-Rotenburg, die 1987 in das Verzeichnis wertvollen Kulturgutes der Bundesrepublik aufgenommen und von Wissenschaftlern der Universität Paderborn 1985 bis 1998 erschlossen wurden – eine Auswahl der Bestände ist auf Microfiches, Untersuchungsergebnisse sind seit 1993 in der Reihe Corvey-Studien veröffentlicht. Hervorzuheben sind 7400 Romane in 15 000 Bänden, weit über ein Drittel aller zwischen 1815 und 1830 erschienenen deutschsprachigen Romane, von denen 100 überdies Unikate sind. Als Nachfolger des von 1860 bis 1874 dort tätigen Bibliothekars August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zeigte und erläuterte der heutige Betreuer, Dr. Günter Tiggesbäumker, ausgesuchte Schätze. Er führte auch durch das romanische Westwerk mit der Kaiser-Loge des Mittelalters und durch die barock gestaltete Saalkirche. Nach der Rückfahrt durch die Wälder des Solling trafen sich die Unentwegten am Abend nochmals im Tagungshotel zu einer Abschlußrunde, besprachen das in einer großen Fülle Gesehene und Erfahrene. Man wird sich im nächsten Jahr in Salzburg wiedertreffen.